Identification: HUN-1997-1-001
4/1997
22.01.1997
Entscheidung 4/1997. (I. 22.) AB
Im Namen der Republik Ungarn!
Das Verfassungsgericht hat aufgrund eines Antrags auf nachträgliche Prüfung der Verfassungswidrigkeit einer Rechtsvorschrift* die folgende Entscheidung getroffen, zu der Verfassungsrichter Dr. Imre Vörös eine abweichende Meinung beigefügt hat:
* Der Einleitungssatz ordnet die Rechtssache in die Verfassungsgerichtsverfahrensart der nachträglichen Normenkontrolle gemäß § 1 Buchstabe b ungVerfGG ein.
1. Das Verfassungsgericht stellt fest, daß eine Rechtsvorschrift, die einen völkerrechtlichen Vertrag verkündet, nach § 1 Buchstabe b Gesetz Nr. XXXII/1989 auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin nachträglich überprüft werden kann.
2. Die Verfassungsmäßigkeitsprüfung kann auch auf die Prüfung der Verfassungswidrigkeit eines zu einem Teil der verkündeten Rechtsvorschrift gewandelten völkerrechtlichen Vertrags erstreckt werden.
3. Hält das Verfassungsgericht den völkerrechtlichen Vertrag oder dessen einzelne Bestimmungen für verfassungswidrig, stellt es die Verfassungswidrigkeit der den völkerrechtlichen Vertrag verkündenden Rechtsvorschrift fest.
4. Die die Verfassungswidrigkeit feststellende Entscheidung des Verfassungsgerichts hat keine Wirkung auf die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Republik Ungarn.
5. Infolge der Entscheidung des Verfassungsgerichts hat der Gesetzgeber - nötigenfalls auch durch eine Verfassungsänderung - den Einklang zwischen den übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen und dem innerstaatlichen Recht herzustellen. Bis zu dessen Herstellung kann das Verfassungsgericht die Entscheidung in der Frage des Aufhebungszeitpunkts bis zu einem angemessenen späteren Zeitpunkt aussetzen.
6. Das Verfassungsgericht weist den Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Bestimmungen § 1 Buchstabe a, § 21 Absatz 1 und §§ 35-36 des Gesetzes Nr. XXXII/1989 über das Verfassungsgericht ab.
7. Das Verfassungsgericht weist den Antrag auf Zuständigkeitsergänzung des
Gesetzes über das Verfassungsgericht zurück.
Das Verfassungsgericht veröffentlicht diese Entscheidung im Magyar Közlöny.
Gründe
I.
1. Verfassungswidrig seien gemäß dem Antragsteller diejenigen Bestimmungen des Gesetzes Nr. XXXII/1989 über das Verfassungsgericht (fortan: ungVerfGG), die hinsichtlich der völkerrechtlichen Verträge ausschließlich Zuständigkeitsregeln bezüglich der vorherigen Verfassungsmäßigkeitsprüfung enthielten und nicht zuliessen, daß die Staatsbürger ihre aus der Verfassung stammenden Rechte im Rahmen der nachträglichen Normenkontrolle bezüglich der Bestimmungen von völkerrechtlichen Verträgen geltend machten. Es sei ebenfalls verfassungswidrig, daß eine solche nachträgliche Normenkontrolle auch vom Verfassungsgericht nicht von Amts wegen fortgeführt werden könnte. Gemäß dem Inhalt des Antrags solle auch die nachträgliche Verfassungsmäßigkeitskontrolle der in einer ungarischen Rechtsvorschift verkündeten völkerrechtlichen Verträge in die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts einbezogen werden besonders in Hinsicht darauf, ob zu dem völkerechtlichen Vertragsabschluß mit dem fraglichen Inhalt eine Verfassungsermächtigung für den Vertragschließenden bestand.
Gemäß dem Antragsteller sei diese mangelhafte Regelung auch deshalb im Widerspruch zur in § 2 der Verfassung deklarierten Verfassungsverpflichtung des demokratischen Rechtsstaats, weil die Staatsbürger die Verfassungsmäßigkeitsprüfung des völkerrechtlichen Vertrags sowohl vor dessen Ratifizierung nicht verlangen könnten als auch das Verfassungsgericht - im Rahmen eines Verfahrens von Amts wegen - nicht zur Durchführung eines solchen Verfahren berechtigt sei. Die Beschränkung der Grundrechte durch einen völkerrechtlichen Vertrag könne infolge dieser mangelhaften Regelung außer Kontrolle durch die Staatsbürger und das Verfassungsgericht geraten. Nach Ansicht des Antragstellers wäre so auch infolge einer in einem völkerrechtlichen Vertrag enthaltenen Verpflichtung die Möglichkeit zur heimlichen Änderung sogar der Verfassung eröffnet.
Der Antrag entfaltet, daß die angegriffenen Gesetzesvorschriften einschränkende Bestimmungen enthielten und diese Beschränkungen nicht mit § 8 der Verfassung übereinstimmten und dies besonders deshalb nicht, weil das Recht auf Antragstellung bestimmten politischen Kräften vorbehalten sei. Jedoch ergäbe sich aus dem Prinzip der Volkssouveränität und der Verfassungsverpflichtung des demokratischen Rechtsstaats der Verfassungsanspruch, daß die Staatsbürger die vorhandene Gesellschaftsordnung überwachen könnten. Eine Regelung, die diesen Forderungen nicht gerecht werde, sei verfassungswidrig.
Gemäß dem Standpunkt des Antragstellers folge aus § 7 Absatz 1 der Verfassung, daß die Verfassung über einer in innerstaatlicher Anwendung erscheinenden völkerrechtlichen Norm stehe, da die Organe des ungarischen Staates nur innerhalb der Verfassungsgrenzen entsprechend den Verfassungsvoraussetzungen eine völkerrechtliche Verpflichtung wirksam eingehen könnten. Deren Kontrolle gehöre aber in die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts. Die mangelhaften bzw. einschränkenden Bestimmungen des ungVerfGG seien folglich nicht in Einklang mit der Verfassung und deshalb sei deren Feststellung als verfassungswidrig begründet und erforderlich.
2. Die mit dem Antrag angegriffenen Bestimmungen des Gesetzes Nr. XXXII/1989 über das Verfassungsgericht lauten wie folgt:
" § 1. Zur Zuständigkeit des Verfassungsgerichts gehören:
a) Die vorherige Prüfung der Verfassungswidrigkeit von Gesetzesentwürfen, beschlossenen, aber noch nicht verkündeten Gesetzen, der Geschäftsordnung des Parlaments und einzelner Bestimmungen völkerrechtlicher Verträge;"*
* Übersetzung abgeglichen mit dem entsprechenden Text in: Alf Masing (Hrsg.), A Magyar Köztársaság Alkotmánya, Zweisprachige Ausgabe, Berlin 1995.
"§ 21. (1) Das Verfahren nach § 1 Buchstabe a können - nach Maßgabe der in §§ 33 bis 36 enthaltenen Differenzierungen - beantragen
a) das Parlament, seine ständigen Ausschüsse oder fünfzig Abgeordnete des Parlaments,
b) der Präsident der Republik,
c) die Regierung."*
* Im Orginal aus Redaktionsversehen unter Buchstabe c "a Minisztertanács". Übersetzung abgeglichen mit dem entsprechenden Text in: Alf Masing (Hrsg.), A Magyar Köztársaság Alkotmánya, Zweisprachige Ausgabe, Berlin 1995.
"§ 35. (1) Auf Antrag des Präsidenten der Republik prüft das Verfassungsgericht die für bedenklich gehaltene Bestimmung eines Gesetzes, das vom Parlament schon beschlossen, aber noch nicht verkündet worden ist.
(2) Stellt das Verfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit einer für bedenklich gehaltenen Gesetzesbestimmung fest, so darf der Präsident der Republik das Gesetz solange nicht verkünden, wie das Parlament die Verfassungswidrigkeit nicht beseitigt hat.
§ 36. (1) Das Parlament, der Präsident der Republik und die Regierung können vor der Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrags die verfassungsrechtliche Prüfung der für bedenklich gehaltenen Bestimmungen des völkerrechtlichen Vertrags beantragen.
(2) Stellt das Verfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit einer für bedenklich gehaltenen Bestimmung eines völkerrechtlichen Vertrags fest, so darf der völkerrechtliche Vertrag solange nicht ratifiziert werden, wie das den völkerrechtlichen Vertrag abschließende Organ oder Person die Verfassungswidrigkeit nicht beseitigt hat."*
* Übersetzung abgeglichen mit dem entsprechenden Text in: Alf Masing (Hrsg.), A Magyar Köztársaság Alkotmánya, Zweisprachige Ausgabe, Berlin 1995
3. Gemäß dem Antragsteller sind die durch die angegriffene Regelung verletzten Verfassungsbestimmungen die folgenden:
Gemäß § 2 Absatz 1 der Verfassung ist die Republik Ungarn ein unabhängiger, demokratischer Rechtsstaat, während nach Absatz 2 in der Republik Ungarn alle Macht dem Volke gehört, das die Volkssouveränität durch seine gewählten Vertreter und unmittelbar ausübt.
Nach § 7 Absatz 1 nimmt die Rechtsordnung der Republik Ungarn die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts an und gewährleistet zudem die Übereinstimmung zwischen den eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen und dem innerstaatlichen Recht.
Nach § 8 Absatz 2 werden in der Republik Ungarn die Bestimmungen, die Grundrechte und pflichten betreffen, durch Gesetz, das aber den Wesensgehalt der Grundrechte nicht einschränken darf, festgelegt.
4. § 32/A Absätze 1 und 2 der Verfassung, die für die Beurteilung des Antrags von besonderer Bedeutung sind, lauten folgendermaßen:
"(1) Das Verfassungsgericht überprüft die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsvorschriften und nimmt die ihm durch Gesetz zugewiesenen Aufgaben wahr.
(2) Das Verfassungsgericht hebt Gesetze und sonstige Rechtsvorschriften, deren Verfassungswidrigkeit festgestellt wird, auf."*
* Übersetzung abgeglichen mit dem entsprechenden Text in: Alf Masing (Hrsg.), A Magyar Köztársaság Alkotmánya, Zweisprachige Ausgabe, Berlin 1995.
Im Laufe der Verfassungsmäßigkeitsprüfung hat das Verfassungsgericht in Verbindung mit dem Antrag die Meinung des Justizministers eingeholt und verwendet.
II.
Das Verfassungsgericht hat den Antrag für unbegründet befunden und zugleich seine Zuständigkeitsbefugnis bezüglich der Verfassungswidrigkeitsprüfung von völkerrechtlichen Verträgen aufgrund der Verfassung und dem ungVerfGG ausgelegt.
1. Die Befugnisse zum Abschließen von völkerrechtlichen Verträgen werden von der Verfassung wie folgt geregelt:
Nach § 19 Absatz 3 Buchstabe f schließt das Parlament die völkerrechtlichen Verträge ab, die für die auswärtigen Beziehungen der Republik Ungarn besonders wichtig sind; nach § 30/A Absatz 1 Buchstabe b schließt der Präsident der Republik völkerrechtliche Verträge im Namen der Republik Ungarn ab (nach vorheriger Zustimmung des Parlaments bzw. nebst Gegenzeichnung durch den Ministerpräsidenten); nach § 35 Absatz 1 Buchstabe j wirkt die Regierung bei der Bestimmung der Außenpolitik mit und schließt namens der Regierung der Republik Ungarn völkerrechtliche Verträge.
Nach der Verfassung sind also das Parlament, der Präsident der Republik und die Regierung berechtigt, völkerrechtliche Verträge abzuschließen. Das Verfassungsgericht hat keine Zuständigkeit zur Prüfung des ganzen Ablaufs eines völkerrechtlichen Vertragschlusses, weil dabei politische Grenzen entscheidend sind. Das bedeutet aber nicht, daß das Verfassungsgericht keine Zuständigkeit zur Prüfung der Vertragsabschlußberechtigung hat. Nach § 19 Absatz 2 Buchstabe f der Verfassung fällt der Abschluß von "besonders wichtigen" völkerrechtlichen Verträgen in die Zuständigkeit des Parlaments. Der Präsident kann einen in die Zuständigkeit des Gesetzgebers fallenden Vertrag nur mit vorheriger Zustimmung des Parlaments abschließen. Die Regierung kann keinen in die Zuständigkeit des Gesetzgebers fallenden völkerrechtlichen Vertrag abschließen. Das Verfassungsgericht kann über die Einhaltung dieser Verfassungsschranken des Vertragsabschlußablaufs entscheiden und in dieser Frage auch vor Abschluß eines Vertrags eine Entscheidung fällen. Dies folgt aus der Bestimmung § 1 Buchstabe f ungVerfGG, nach der das Verfassungsgericht für die Schlichtung von Zuständigkeitskonflikten zwischen Staatsorganen zuständig ist. Die Übertretung der Befugnis zum Abschluß von Verträgen ist eine formelle Verfassungswidrigkeit, die auch nach Vertragsabschluß bei jedem Verfahren überprüft werden kann, zu dem das Verfassungsgericht berechtigt ist, sowohl bei der vorherigen als auch bei der nachträglichen Normenkontrolle.
2. Der Antragsteller hält es für verfassungswidrig, daß die Verfassungsmäßigkeitsprüfung vor der Ratifizierung des völkerrechtlichen Vertrags lediglich vom Parlament, vom Präsidenten der Republik oder von der Regierung beantragt werden kann und nicht von jedermann im Wege der actio popularis.
Nach § 32/A Absatz 3 der Verfassung kann das Verfassungsgericht in den gesetzlich bestimmten Fällen von jedermann angerufen werden. Aus der Verfassung folgt hinsichtlich der actio popularis die Forderung, daß jeder das Recht haben soll, einen Antrag auf eine in § 32/A Absätze 1 und 2 bestimmte Überprüfung zu stellen. Das ist aber eine Verfassungsmäßigkeitsprüfung, die dazu führen kann, daß eine Rechtsvorschrift für verfassungswidrig erklärt und aufgehoben werden kann, und somit eine nachträgliche Normenkontrolle. Mittels der historischen Auslegung des § 32/A der Verfassung kann die gesetzgeberische Absicht der verfassungsgebenden Gewalt eindeutig festgestellt werden, die actio popularis mit der Verfassungsgerichtszuständigkeit der nachträglichen abstrakten Normenkontrolle zu verbinden.
Die ersten Entwürfe zum ungVerfGG im Justizministerium haben den Staatsbürgern kein Antragsrecht auf nachträgliche abstrakte Normenkontrolle gewährt. Das läßt sich aus einem Vergleich der §§ 19, 39 und 49 des vor den "nationalen Verständigungsverhandlungen" am 6. Mai 1989 veröffentlichten Gesetzesentwurfs folgern; anschließend wird es aus dem "Gesetzesentwurf über das Verfassungsgericht" vom 29. Mai 1989, in dem auch die Ergebnisse des Ressortumlaufs berücksichtigt sind, eindeutig, daß die nachträgliche abstrakte Normenkontrolle lediglich von den unter § 21 Absatz 2 bestimmten Organen oder Amtsträgern beantragt werden kann, während für jedweden Staatsbürger lediglich die - inzwischen auf die Rechtsverletzung infolge einer Anwendung einer verfassungswidrigen Rechtsvorschrift beschränkte - Verfassungsbeschwerde offen steht (§ 47). Bei den Verständigungsverhandlungen war es eine der Hauptforderungen des Oppositionellen Runden Tisches, - die auch als Bedingung für eine Überkunft bezüglich des Textes des Gesetzesvorschlages galt -, daß die nachträgliche abstrakte Normenkontrolle von jedermann beantragt werden kann. Diese Bedingung und der Ablauf der Übereinkunft können verfolgt werden - unter anderem - in dem Gesetzesentwurf vom Justizministerium, der den Standpunkt der Verhandlungspartner zu den einzelnen Gesetzesbestimmungen als "Anmerkungen" enthält, sowie im Dokument "Ergänzung zum Gesetzesentwurf über das Verfassungsgericht" (19. September 1989), das die endgültige Vereinbarung vom 18. September 1989 widerspiegelt. Der Gesetzesentwurf vom 22. September 1989, der vor das Parlament gekommen ist, enthält dementsprechend die Bestimmung, daß das Verfahren nach § 1 Buchstabe b ungVerfGG von jedermann beantragt werden kann. Nach der dem Vorschlag beigefügten Begründung des Ministers kann "jedermann einen Antrag auf nachträgliche Normenkontrolle sowie auf die Feststellung einer Verfassungswidrigkeit aufgrund Unterlassung stellen, ferner - bei Vorhandensein der im Gesetz festgelegten Voraussetzungen - die Verfassungsbeschwerde erheben".
Die andere wichtige Forderung des Oppositionellen Runden Tisches war, daß sich die Normenkontrolle und das Recht auf Aufhebung einer verfassungwidrigen Rechtsvorschrift auch auf das Gesetz erstreckt. Der Entwurf des Justizministeriums enthielt nämlich ursprünglich die Bestimmung, daß das Verfassungsgericht im Falle der Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes die Entscheidung dem Präsidenten des Parlaments übermittelt und das Parlament - nach Besprechung der Entscheidung - dieser entweder zustimmt oder das Gesetz mit Zweidrittel der Stimmen aller Abgeordneten ratifiziert (§ 46). Die Verhandlungspartner haben entsprechend der Forderung des Oppositionellen Runden Tisches vereinbart, daß sich das Recht auf Aufhebung ausnahmslos auf alle Rechtsvorschriften (und alle anderen Rechtsinstrumente der staatlichen Leitung) erstreckt. Diese Vollständigkeit kommt durch die Verwendung des bestimmten Artikels in § 32/A Absätze 1 und 2 der Verfassung zum Ausdruck: das Verfassungsgericht überprüft die Verfassungsmäßigkeit "der Rechtsvorschriften" und es hebt "die Gesetze und andere Rechtsvorschriften" im Falle deren Verfassungswidrigkeit auf.
Die dritte Forderung des Oppositionellen Runden Tisches war eine solche Regelung der Richterkandidatur bzw. der Richterwahl, wie sie auch in dem gegenwärtig geltenden Recht enthalten ist.
Alle drei erreichten Veränderungen waren von so wesentlicher Bedeutung, daß der Oppositionelle Runde Tisch diese aus Garantiegründen auch in die neue Verfassung aufnehmen ließ. Darauf wird hingewiesen in der Begründung zu dem die Bestimmungen über das Verfassungsgericht einfügenden § 17 des Gesetzes Nr. XXXI/1989 über die Änderung der Verfassung, wonach es "den fachlichen und politischen Ansichten folgend eindrücklich klar wurde, daß diese wichtige Institution zum Schutze der Verfassung entgegen den ursprünglichen Vorstellungen mit einem etwas abweichenden Inhalt gegründet werden muß" und in der die bereits erwähnten drei Veränderungen aufgezählt sind.
Aus der Entstehungsgeschichte des § 32/A der Verfassung ergeben sich zwei Folgerungen. Vor allem, daß § 32/A Absätze 1 und 2 der Verfassung eine Zuständigkeitsregel darstellen, die eine als das Ergebnis der Auseinandersetzung über die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts geschlossene Vereinbarung in eine Rechtsvorschrift faßt. Die Kodifizierung der die Verfassungsgerichtsbarkeit eigens qualifizierenden Zuständigkeit(en) in der Verfassung ist ohnehin unerläßlich. Den Umständen der Verfassungsgebung ist es zu verdanken, daß nur die grundlegendste Zuständigkeit in die ungarische Verfassung aufgenommen wurde. Die Kodifizierung der übrigen Zuständigkeiten in der Verfassung hat - wie allgemein im Falle der neueren Verfassungsgerichte - Garantiebedeutung und ist somit wünschenswert.
Die zweite Folgerung ist die Auslegung des § 32/A Absatz 3 der Verfassung, daß der Antrag auf Verfassungsgerichtsverfahren durch jedermann vom Gesetzgeber im Rahmen des nachträglichen abstrakten Normkontrollverfahrens gewährleistet werden soll. Dadurch, daß das Antragsrecht "in den im Gesetz bestimmten Fällen" jedermann zusteht - darüber hinaus, daß diese Berechtigung für die nachträgliche Normenkontrolle durch Gesetz gewährleistet werden soll -, wird aufgrund der historischen Auslegung die Vorschrift über die materiellen rechtlichen Voraussetzungen im Gesetz über das Verfassungsgericht für den Verfassungsbeschwerdeantrag möglich. Dies ist auch im § 48 ungVerfGG geschehen; hinsichtlich der abstrakten Kontrolle konnte es nur zu einer Verfahrensregelung kommen (§ 37).
Dem § 32/A der Verfassung wird § 21 Absatz 2 ungVerfGG gerecht, wonach das Verfahren nach § 1 Buchstabe b von jedermann beantragt werden kann. Aus der Verfassung folgt aber nicht, daß die Initiierung der übrigen in die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts fallenden Verfahren jedermann offen stehen solle. D. h., die Verfassung erfordert nicht die jedermanns-Antragsberechtigung (actio popularis) für Verfahren außerhalb der nachträglichen Normenkontrolle. Der Gesetzgeber hat bezüglich der nachträglichen Normenkontrolle durch die Zulassung der actio popularis seine verfassungsmäßige Pflicht aus § 32/A Absatz 3 erfüllt, er hat sogar - ebenfalls auf Wunsch des Oppositionellen Runden Tisches - bezüglich der Beseitigung einer Verfassungswidrigkeit durch Unterlassen noch eine weitere Antragsbefugnis für jedermann gewährleistet, ohne dazu von Verfassungs wegen verpflichtet zu sein.
Somit ist eine Begrenzung der Beantragung eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens der vorherigen Normenkontrolle auf die Fälle nach § 21 Absatz 1 ungVerfGG nicht verfassungswidrig. Das Verfassungsgericht bemerkt ferner, daß die Überprüfung der Rechtsvorschriften nach § 32/A Absatz 1 der Verfassung die einzige von Verfassung wegen obligatorische verfassungsgerichtliche Kompetenz ist. Ein noch nicht ratifizierter völkerrechtlicher Vertrag ist noch keine Rechtsvorschrift. Dem Gesetzgeber ist aufgrund der Verfassung nicht nur zur Bestimmung des Kreises der Antragsteller freie Hand gelassen worden, sondern er kann auch entscheiden, ob er überhaupt eine vorherige Normenkontrolle zuläßt. Eine weitere - naturgemäße - Bedingung für die Gewährung des Rechts auf Antragstellung durch jedermann ist die Voraussetzung, daß die angreifbare Bestimmung (Rechtsvorschrift, sonstige Mittel der staatlichen Leitung) für jeden zugänglich. d.h. veröffentlicht sein soll. In dem vom Antrag betroffenden Umfang geht es um die Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrags, folglich um seine Verfassungsmäßigkeitsprüfung vor der Verkündung, jedoch wäre eine hinsichtlich einer noch nicht verkündeten Norm zugelassene actio popularis bloß eine formale und in der Praxis unbrauchbare Berechtigung.
3. Dies berücksichtigend ist die Argumentation des Antragstellers auch in der Hinsicht nicht zutreffend, daß die Beschränkung des Kreises derjenigen, die zur vorherigen Verfassungsmäßigkeitsprüfung eines völkerrechtlichen Vertrages berechtigt sind, gegen § 8 der Verfassung verstoße. Die Berechtigung zur Veranlassung eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens ist lediglich im Rahmen des § 32/A ein verfassungsmäßiges Grundrecht und § 32/A schließt dementsprechend die vorherige Normenkontrolle nicht mit ein. Aus dem Prinzip der Volkssouveränität und der Forderung der Rechtsstaatlichkeit folgt ebenfalls nicht, daß es - bezüglich der vorherigen Verfassungsmäßigkeitsprüfung der völkerrechtlichen Verträge - zu ihrer Realisierung als Bedingung erforderlich wäre, daß die Berechtigung zur Antragstellung zum Verfassungsgericht jedermann gewährt sei.
4. Im Sinne von § 20 des ungVerfGG verfährt das Verfassungsgericht aufgrund des Antrags des dazu Berechtigten. Die Initiierung eines Verfahrens von Amts wegen ist eine besondere Zuständigkeit des Verfassungsgerichts und bezieht sich nach § 21 Absatz 7 auf die Verfahren nach § 1 Buchstaben c und e. Danach kann das Verfassungsgericht von Amts wegen ein Verfahren einleiten zur Prüfung eines Verstoßes einer Rechtsvorschrift oder eines anderen Rechtinstruments der staatlichen Leitung gegen einen völkerrechtlichen Vertrag und zur Beseitigung einer Verfassungswidrigkeit durch Unterlassen. Ein Verpflichtsein zur von Amts wegen Verfahrenseinleitung durch das Verfassungsgericht kann nicht aus § 2, aus § 7 oder aus § 32/A der Verfassung in bezug auf keines der verfassungsgerichtlichen Verfahren abgeleitet werden. Deshalb ist der Antrag auch in dem Teil, in dem das Fehlen eines Verfahrens von Amts wegen beklagt wird, unbegründet.
5. Die Entscheidung 61/B/1992. AB (ABH 1993, 831) des Verfassungsgerichts besagt in der Sachfrage der nachträglichen Verfassungsmäßigkeitsprüfung von völkerrechtlichen Verträgen unter Bezugnahme auf § 1 des ungVerfGG, daß die nachträgliche Verfassungsmäßigkeitsprüfung "eines ratifizierten und im innerstaatlichen Recht verkündeten" völkerrechtlichen Vertrags nach § 1 ungVerfGG nicht in die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts fällt. Diese Feststellung widerspricht der früheren Entscheidung 30/1990. (XII.15.) AB (ABH 1990, 128, 131-132), nach der eine einen völkerrechtlichen Vertrag verkündende innerstaatliche Rechtsvorschrift "als Rechtsvorschrift nicht dem Kreis der Verfassungmäßigkeitsprüfung enthoben ist," und deshalb sich die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts nach § 1 Buchstabe b ungVerfGG auf die nachträgliche Verfassungsmäßigkeitsprüfung der einen völkerrechtlichen Vertrag verkündenden Rechtsvorschrift erstrecke. Die oben zitierte Entscheidung hat eine materielle Verfassungsmäßigkeitsprüfung einiger Bestimmungen aus dem völkerrechtlichen Vertrag als ein Teil der verkündenden Rechtsvorschrift durchgeführt. [Das Verfassungsgericht hat den Paragraphen der das völkerrechtliche Abkommen verkündende Gesetzesverordnung, nämlich "§ 2, die Artikel 9 Punkt 1, Artikel 10 Punkt 1 sowie Artikel 17 mit § 57 Absatz 1 und 5 bzw. § 7 Absatz 1 der Verfassung" "verglichen" und den Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Gesetzesverordnung abgewiesen, denn - "obwohl sich die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts auf die Verfassungsmäßigkeitsprüfung der Gesetzesverordnung erstreckt, ist gemäß der Beurteilung durch das Organ die bereits dargelegte verfassungswidrige Rechtsanwendungspraxis nicht unmittelbar in der gesetzlichen Bestimmung begründet", sondern in der Unterlassung der Verabschiedung einer den Vertrag durchführenden innerstaatlichen Rechtsvorschrift.]
In der Begründung der Entscheidung "teilte" aber gleichzeitig das Verfassungsgericht die Ansichten des Ministeriums darüber, daß das Verfassungsgericht für die nachträgliche Prüfung des völkerrechtlichen Vertrags an sich nicht zuständig sei. Der Standpunkt des Verfassungsgerichts ist in diesem Umfang offensichtlich widersprüchlich, weil sich die nachträgliche abstrakte Normenkontrolle nach § 1 Buchstabe b ungVerfGG nicht in den Vertrag "an sich" und in den Vertrag, der "Teil der verkündenden Rechtsvorschrift ist", aufteilen läßt; so wie auch das Verfassungsgericht in der Entscheidung eine solche Unterscheidung nicht aufrecht erhielt. Deshalb mußte das Verfassungsgericht im Zuge des jetzigen Antrags den in den früheren Entscheidungen enthaltenen Widerspruch auflösen und seinen Standpunkt darüber klar stellen, inwieweit sich seine Zuständigkeit auf die Verfassungsmäßigkeitsprüfung völkerrechtlicher Verträge erstreckt.
Das Kapitel III der Entscheidung 53/1993. (X. 13.) AB (ABH 1993, 327) enthält hinsichtlich des Verhältnisses des innerstaatlichen und des Völkerrechts die wesentlichen Feststellungen bezüglich der Zuständigkeit des Verfassungsgerichts. Danach besagt der erste Ausdruck des § 7 Absatz 1 der Verfassung, daß die "allgemein anerkannten Regeln" des Völkerrechts ohne eine besondere (weitere) Transformation Teile des ungarischen Rechts sind. Die Transformation wurde im allgemeinen durch die Verfassung selbst vollzogen. Somit sind die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts keine Teile der Verfassung, sondern "eingegangene Verpflichtungen". Die Tatsache, daß die Verpflichtung und die Transformation in der Verfassung enthalten sind, beeinflußt nicht die Hierarchie der Verfassung, des Völkerrechts und des innerstaatlichen Rechts. Diese allgemeine Transformation in innerstaatliches Recht schließt nicht aus, daß bestimmte "allgemein anerkannte Regeln" (auch) in besonderen Verträgen festgelegt werden und hinsichtlich deren eine besondere Transformation geschieht.
Der zweite Halbsatz des § 7 Absatz 1 der Verfassung - die Gewährleistung des Einklangs zwischen den eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen und dem innerstaatlichen Recht - bezieht sich auf alle "eingegangenen" völkerrechtlichen Verpflichtungen, auch auf die anerkannten Regeln. Andererseits ist der Einklang mit dem gesamten innerstaatlichen Recht, auch mit der Verfassung, zu gewährleisten. Nach § 7 Absatz 1 der Verfassung ist ein Einklang erforderlich zwischen der Verfassung, den aus dem Völkerrecht stammenden Verpflichtungen, die entweder in einem Vertrag oder unmittelbar durch die Verfassung eingegangen wurden, und dem innerstaatlichen Recht; wobei in der Gewährleistung des Einklangs die jedweden Eigentümlichkeiten zu berücksichtigen sind.
Nach den ausdrücklichen Feststellungen dieser Entscheidung müssen zur Erfüllung des § 7 der Verfassung alle drei Ebenen, das innerstaatliche Recht, der völkerrechtliche Vertrag und die Verfassung, gleichzeitig und in ihrem Zusammenhang geprüft werden. D. h. "es muß notwendigerweise in die Prüfung miteinbezogen werden, ... ob die völkerrechtliche Verpflichtung mit der Verfassung im Einklang ist"; ferner: "Es ist gleichgültig, ob es sich um die vorherige oder nachträgliche Verfassungsmäßigkeitskontrolle einer Rechtsvorschrift handelt; keine kann ohne eine Überprüfung des Einklangs zwischen der innerstaatlichen Rechtsvorschrift, dem völkerrechtlichen Vertrag und der Verfassung durchgeführt werden." (ABH 1993, 326).
6. Aus den genannten Verfassungsbestimmungen und den zitierten Verfassungsgerichtsentscheidungen läßt sich ableiten, daß das Verfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit eines völkerrechtlichen Vertrags nicht nur nach § 1 Buchstabe a ungVerfGG im Rahmen einer vorherigen Normenkontrolle, sondern auch nach § 1 Buchstabe b ungVerfGG durch eine nachträgliche Normenkontrolle prüfen darf. Wäre dem nicht so, würde das gegebenenfalls nicht nur eine unheilbare Verletzung des § 7 Absatz 1 der Verfassung bedeuten, sondern geriete auch in Widerspruch mit dem Inhalt von § 32/A Absätze 1 und 2 der Verfassung.
Aus der Verfassung folgt eine einzige Zuständigkeit des Verfassungsgericht, nämlich die nachträgliche Normenkontrolle, und zwar diese verbindlich und - wie oben, in der historischen Auslegung schon erwähnt - umfassend. Die Kodifizierungsarbeiten am ungVerfGG und an der Verfassung enthalten keine Angaben darüber, daß der Gesetzgeber irgendwelche Arten von Gesetzen - z. B. das Gesetz zur Verkündung eines völkerrechtlichen Vertrags - der Normenkontrolle entziehen wollte. Der mögliche Umstand - besonders angesichts der Umstände bei der Verfassungsgebung und der Verabschiedung des ungVerfGG -, daß der Gesetzgeber diesen Fall der nachträglichen Normenkontrolle damals ausdrücklich nicht erwogen hat, beeinflußt das Recht des Verfassungsgerichts nicht, seine Zuständigkeit durch Rechtsauslegung zu konkretisieren. Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts zur Auslegung seiner Zuständigkeit sind ebenso allseits verbindlich wie all die weiteren - in der durch eine solche Auslegung eröffneten Zuständigkeit getroffenen - Entscheidungen. In dieser Auslegung wird das Verfassungsgericht einerseits davon geleitet, seiner eigenen Aufgabe gerecht zu werden; andererseits von den Beispielen anderer Verfassungsgerichte, von denen das Verfassungsgericht diejenigen Lösungen annimmt, die durch die notwendige Entwicklung in der Aufgabenerfüllung einer Verfassungsgerichtsbarkeit erfordert werden. Das Verfassungsgericht weist einerseits auf die einschränkende Auslegung seiner Zuständigkeit zur vorherigen Normenkontrolle und abstrakten Verfassungsauslegung hin, andererseits im Rahmen der nachträglichen Normenkontrolle auf die Festlegung der Verfassungsvoraussetzungen bezüglich der Anwendung der geprüften Norm oder auf die verschiedenen Lösungen bezüglich der aufgeschobenen Aufhebung von verfassungswidrigen Vorschriften. Durch die Festlegung der "Verfassungsvoraussetzungen" wurde die in den Verfassungsgerichten der Welt allgemein verwendete, aber ganz selten auf eine besondere Gesetzesgrundlage gestützte Lösung der "verfassungskonformen Auslegung" in das ungarische Recht eingeführt und an den bereits früher entwickelten Standpunkt in den Normauslegungszuständigkeiten angepaßt. In Übereinstimmung mit seinen früheren zuständigkeitsauslegenden Entscheidungen hat das Verfassungsgericht auch in dieser Sache neben der vollständigen Ausübung seiner Verfassungszuständigkeit für die nachträgliche Normenkontrolle auch die ausländischen Beispiele der Verfassungsmäßigkeitsprüfung völkerrechtlicher Verträge in Betracht gezogen. Schließlich weist das Verfassungsgericht darauf hin, daß es bei der Verfassungsmäßigkeitsprüfung eines völkerrechtlichen Vertrags im Rahmen seiner Verfassungsaufgabe, nämlich der nachträglichen Normenkontrolle bleibt. Da es ausschließlich den Einklang von völkerrechtlichem Vertrag und Verfassung prüft, berührt es nicht den Aufgaben- und Zuständigkeitskreis anderer Gewaltenzweige. Der Umstand, daß § 1 Buchstabe b ungVerfGG keine besonderen Verfahrensregeln für den Fall vorsieht, wenn die geprüfte Rechtsvorschrift einen völkerrechtlichen Vertrag verkündet, berührt die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts zur Prüfung solcher Normen nicht. Das Parlament hat dem Verfassungsgericht zahlreiche Zuständigkeiten in den Gesetzen außerhalb des ungVerfGG zugewiesen, ohne dazu besondere Verfahren vorzusehen. Daraus folgt aber nicht, daß das Verfassungsgericht nicht zum Schutze der Rechte der Selbstverwaltungen oder der universitären Selbständigkeit hätte vorgehen und sein Verfahren zur Wahrnehmung seiner aus seiner Zuständigkeit sich ergebenden Aufgaben nicht hätte formen können. Hinsichtlich der Prüfung des völkerrechtlichen Vertrags gelten die allgemeinen Verfahrensregeln der nachträglichen Normenkontrolle; und das Verfassungsgericht berücksichtigt die Eigentümlichkeiten des völkerrechtlichen Vertrags bei der Festlegung der Verfassungswidrigkeitsfolgen.
Gleichwie gemäß der Entscheidung 53/1993 (X.13.) AB des Verfassungsgerichts § 7 Absatz 1 die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines völkerrechtlichen Vertrages erforderlich macht, so folgt es ebenfalls zwingend aus § 32/A. Es gibt keinen Verfassungsgrund dafür, daß das Verfassungsgericht eine einen völkerrechtlichen Vertrag verkündende Rechtsvorschrift bezüglich der Verfassungsmäßigkeitsprüfung anders behandeln soll als jede andere Rechtsvorschrift. Da es aus der Verfassung folgt, daß die nachträgliche Normenkontrolle für jede Rechtsvorschrift gilt, kann diese Umfassendheit auch auf gesetzgeberischen Weg nicht einschränkt werden.
§ 1 Buchstabe a ungVerfGG bedeutet also nicht, daß das Verfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit einiger Bestimmungen des völkerrechtlichen Vertrags nur präventiv prüfen darf, sondern daß die Verfassungswidrigkeit völkerrechtlicher Verträge neben dem nachträglichen Normenkontrollverfahren gemäß der Verfassung nach dem Gesetz und nach den dort festgelegten Voraussetzungen auch vorhergehend geprüft werden darf. Daraus, daß die vorherige Prüfung des völkerrechtlichen Vertrags unter § 1 Buchstabe a ungVerfGG genannt wird, folgt nicht, daß der zur innerstaatlichen Rechtsvorschrift gewordene Vertrag als ein Spezialfall "der Rechtsvorschrift" auch in Buchstabe b gesondert hätte erwähnt werden sollen; und keinesfalls läßt sich daraus folgern, daß der Gesetzgeber dessen nachträgliche Prüfung damit ausschließen wollte. Im Rahmen der vorherigen Normenkontrolle war die Aufzählung der zu prüfenden einzelnen Normarten nötig, da der Gesetzesentwurf, das schon verabschiedete, aber noch nicht verkündete Gesetz und die Geschäftsordnung des Parlaments nicht in einem Oberbegriff zusammengefaßt werden konnten; und die gesonderte Nennung des völkerrechtlichen Vertrags war deshalb besonders nötig, weil er einerseits nicht notwendigerweise die Form eines Gesetzentwurfs annimmt und andererseits, weil - im Gegensatz zu den vorherigen - der Gesetzgeber die Prüfung ausdrücklich auf einzelne Bestimmungen des völkerrechtlichen Vertrages beschränken wollte. Deshalb werden in § 30 Absatz 1 Buchstaben a und b ungVerfGG die unter die vorherige Normenkontrolle fallenden Normarten einzeln aufgezählt.
Wenn der völkerrechtliche Vertrag - und so auch das verkündende Gesetz - auch eine solche Bestimmung enthält, die gleichzeitig im Sinne des § 7 der Verfassung "eine allgemein anerkannte Regel des Völkerrechts" ist, d.h. der Vertrag wiederholt lediglich die Vorschrift, die vorher unmittelbar durch die Verfassung ein Teil des innerstaatlichen Rechts geworden ist, dann müssen bei der Verfassungsmäßigkeitsprüfung der Vorschrift alle die Beschränkungen berücksichtigt werden, die auch die Entscheidung 53/1993. (X.13.) AB in Betracht zieht. Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts stehen in der Rechtsquellenhierarchie zwar nicht auf Verfassungsebene; aber die Verfassungsforderung nach der "Gewährleistung ihres Einklangs mit dem innerstaatlichen Recht" ist so zu erfüllen, daß die Verfassung mit Rücksicht auf diese hervorgehobenen Regeln des Völkerrechts ausgelegt werden soll (ABH 1993, 334).
7. Zur Bestätigung der obigen Erörterung weist das Verfassungsgericht darauf hin, daß das dualistisch-transformatorische System bezüglich des Verhältnisses des Völkerrechts und des innerstaatlichen Rechts in der europäischen Rechtsentwicklung immer mehr von dem monistischen System - von der unmittelbaren Anwendung der völkerrechtlichen Verträge (des Völkerrechts) - abgelöst wird. Nach der sogenannten monistisch-adoptiven Konzeption ist der abgeschlossene völkerrechtliche Vertrag auch ohne ein besonderes Ratifikationsgesetz Teil des innerstaatlichen Rechtssystems, wird unmittelbar angewendet und hat Priorität gegenüber den "innerstaatlichen" Gesetzen. Dieses System wird von der europäischen Integration verbindlich gefordert und deshalb wenden sogar diejenigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (z.B. die Gründungsmitglieder BRD und Italien oder die später aufgenommenen skandinavischen Länder), die das Transformationssystem verwenden, die Rechtsvorschriften der Europäischen Union unmittelbar, d. h. ohne Transformation, an und geben diesen gegenüber der nationalen Rechtsordnung - mit Ausnahme der Verfassung - einen Vorrang. Das bringt es aber mit sich, daß die Verfassungsgerichte ihre Zuständigkeiten bezüglich der Verfassungsmäßigkeitsnormenkontrolle auch hinsichtlich der automatisch - durch das Adoptionssystem - innerstaatliches Recht werdenden völkerrechtlichen Verträge (Völkerrecht), bzw. der innerstaatliches Recht werdenden Entscheidungen internationaler Organisationen ausüben.
Die Prüfung von völkerrechtlichen Verträgen - nachdem sie Teil des innerstaatlichen Rechts geworden sind - fügt sich nämlich in jeder Hinsicht ein in die Logik der Normenkontrolle des Verfassungsgerichts. Deshalb üben diesbezüglich die Verfassungsgerichte auch in den Ländern, in denen es keine ausdrückliche Bestimmung darüber gibt - aufgrund der unentziehbaren Umfassendheit der Normenkontrolle - die Verfassungsmäßigkeitsprüfung in der gleicher Weise aus wie die Verfassungsmäßigkeitskontrolle innerstaatlicher Rechtsvorschriften.
Das Verfassungsgericht hebt hervor, daß die Verfassungsmäßigkeitsprüfung der völkerrechtlichen Verträge auch durch die Verfassungsgerichte in jenen Staaten ausgeübt wird, die als Hauptregel das dualistisch-transformatorische System verwenden, und zwar auch hinsichtlich der gerade durch diese Technik Teil des innerstaatlichen Rechts gewordenen völkerrechtlichen Verträge. Zum Beispiel schreibt Artikel 59 des deutschen Grundgesetzes (fortan: GG) das dualistisch-transformatorische System vor. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat seine Spruchpraxis, obwohl es für die präventive Normenkontrolle keine Zuständigkeit besitzt, dennoch auf die Kontrolle von völkerrechtlichen Verträgen vor der Ratifikation ausgedehnt. Das deutsche Verfassungsgericht hat zuerst 1952 ein einen völkerrechtlichen Vertrag bestätigendes Gesetz (vor seiner Verkündung) einer Prüfung unterzogen [BVerfGE 1, 281; bzw. 1, 396 (413)]. Im weiteren Verlauf hat das Verfassungsgericht die ständige Praxis angenommen, nach der das sogenannte Zustimmungsgesetz* unmittelbarer Gegenstand einer abstrakten Normenkontrolle bzw. einer Verfassungsbeschwerde sein kann, wodurch der völkerrechtliche Vertrag ein mittelbarer Gegenstand des Verfahrens wird. Dementsprechend hat z. B. das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des BRD-DDR Grundlagenvertrags [BVerfGE 36, 1] geprüft; den EGV-Vertrag [BVerfGE 52, 187 (199)]; einzelne vermögensrechtliche Bestimmungen des BRD-DDR Einigungsvertrags [BVerfGE 84, 90 (113)]; und im Zusammenhang mit der Verfassungsmäßigkeit des den Vertrag von Maastricht verkündenden Gesetzes bestand die Frage, ob der Rechtsgehalt der im GG festgelegten Direktwahl des Bundestags, die Demokratie und die Volkssouveränität wegen des supranationalen Charakters der EU nicht leer laufen würden [BVerfGE 89, 155].
* Aus dem Ungarischen wörtlich übersetzt: Inartikulationsgesetz.
In diesen Entscheidungen kommt der Standpunkt zum Ausdruck, daß das deutsche Verfassungsgericht neben der "natürlichen" Ausübung der Verfassungsgerichtszuständigkeit bezüglich der nachträglichen Normenkontrolle - besonders hinsichtlich der Verträge mit der EU - nicht darauf verzichten kann, einen Teil seiner verfassungsschützenden Aufgabe auszuüben, und diese Aufgabe erstreckt sich auf jegliche Ausübung der Souveränität, die nur auf dem Grundgesetz beruht. Auf dieser Grundlage hält das Verfassungsgericht - neben der Prüfung der Verkündungsgesetze - auch die Unterstellung unter das Gemeinschaftsrecht unter ständiger Kontrolle.
Einer ähnlichen Praxis wird in Griechenland, das ebenfalls die Transformationstechnik verwendet, gefolgt.
8. Das Verfassungsgericht stellt zusammenfassend fest:
Die einen völkerrechtlichen Vertrag verkündende Rechtsvorschrift kann Gegenstand einer nachträglichen Verfassungmäßigkeitsprüfung nach § 1 Buchstabe b ungVerfGG sein, und die Verfassungsmäßigkeitsprüfung kann sich auch auf die Verfassungswidrigkeitsprüfung des Teil der den Vertrag verkündenden Rechtsvorschrift gewordenen völkerrechtlichen Vertrags erstrecken. Hält das Verfassungsgericht den völkerrechtlichen Vertrag oder dessen einzelne Bestimmungen für verfassungswidrig, dann stellt es die Verfassungswidrigkeit der den Vertrag verkündenden Rechtsvorschrift fest. Jedoch kann sich die Verfassungswidrigkeit feststellende Entscheidung des Verfassungsgerichts nicht auf die eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Republik Ungarn auswirken. Infolge der Entscheidung des Verfassungsgerichts hat der Gesetzgeber den Einklang zwischen der eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtung und dem innerstaatlichen Recht zu gewährleisten; entweder dadurch, daß die Republik Ungarn den Teil des völkerrechtlichen Vertrags, der der Verfassung widerspricht, kündigen bzw. dessen Änderung erreichen oder - nötigenfalls - die Verfassung ändern muß. Bis dahin darf das Verfassungsgericht die Entscheidung über den Aufhebungszeitpunkt mit einer sinnvollen Zeitspanne aufschieben.
9. Aufgrund der obigen Ausführungen hat das Verfassungsgericht den Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit des § 1 Buchstabe a, § 21 Absatz 1 und der §§ 35-36 ungVerfGG für unbegründet befunden und deshalb abgewiesen. § 1 ungVerfGG und die besonderen gesetzlichen Bestimmungen über die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts enthalten keine Vorschriften darüber, daß das Verfassungsgericht zur Gesetzesergänzung berechtigt wäre. Deshalb hat das Verfassungsgericht den Antrag auf Ergänzung der Zuständigkeitsregeln des ungVerfGG - wegen fehlender Zuständigkeit - zurückgewiesen.
An der Entscheidung wirkten mit die Verfassungsrichter: Dr. László Sólyom (Präsident des Verfassungsgerichts; Berichterstatter), Dr. Antal Ádám, Dr. András Holló, Dr. Géza Kilényi, Dr. Tamás Lábady (Berichterstatter), Dr. András Szabó, Dr. Ödön Tersztyánszky, Dr. Imre Vörös, Dr. János Zlinszky.
Abweichende Meinung des Verfassungsrichters Dr. Imre Vörös
Nach meinem Urteil hat das Verfassungsgericht keine Zuständigkeit zur nachträglichen Prüfung der Verfassungswidrigkeit eines völkerrechtlichen Vertrags.
1. Gemäß § 1 Buchstabe a, dem darauf verweisenden § 21 Absatz 1, § 30 Absatz 1 und § 36 des Gesetzes Nr. XXXII/1989 über das Verfassungsgericht (ungVerfGG) zusammengenommen ist im Falle der völkerrechtlichen Verträge nur vor der Ratifizierung die Möglichkeit zum verfassungsgerichtlichen Verfahren, d.h. zum Verfahren der vorherigen Prüfung einer Verfassungswidrigkeit gegeben. Aufgrund § 1 Buchstabe b ungVerfGG besteht gerade unter Beachtung des § 1 Buchstabe a ungVerfGG keine Möglichkeit zur nachträglichen Verfassungsmäßigkeitsprüfung: der völkerrechtliche Vertrag verliert durch die Einfügung in das innerstaatliche Recht, dadurch, daß ihn das Parlament in der Form eines ungarischen Gesetzes ausdrücklich in die ungarische Rechtsordnung eingliedert, nicht seinen hinsichtlich des Verfassungsgerichtsverfahrens charakteristischen Zug, daß er als völkerrechtlicher Vertrag, daher nicht durch den ungarischen Rechtssetzers, sondern durch Vereinbarung zweier oder mehrerer völkerrechtlicher Rechtssubjekte zustande gebracht wurde.
2. Der Standpunkt des Antragstellers, daß diese Lösung verfassungswidrig sei, ist unbegründet, weil § 32/A der Verfassung das Verfassungsgericht nicht mit der Zuständigkeit zur Verfassungsmäßigkeitsprüfung jeder Rechtsvorschrift ausstattet. Der § 32/A ist hinsichtlich seiner Normnatur (abweichend von den unmittelbar anwendbaren Verfassungsnormen - wie zum Beispiel die Menschenrechte -, die durch ihre Kodifizierung in der Verfassung gleich als subjektive Rechte konstituiert werden) eine sogenannte indirekte (erst durch die Vermittlung anderer Rechtsvorschriften) wirksam werdende und anwendbare Norm, die die Hauptcharakterzüge der durch sie zustandegekommenen Institution festlegt und die ausführliche Regelung einem besonderen Gesetz überantwortet. Im Falle einer solchen Norm kann die gegebene Institution nur durch die Schaffung des in Aussicht gestellten besonderen Gesetzes in die Praxis eingeführt werden. Die Verfassung hat diese Lösung auch im Falle des Staatsrechnungshofes (§ 32/C der Verfassung) oder der Einrichtung der Parlamentsbeauftragten (§ 32/B der Verfassung) verwendet.
Hinsichtlich des Verfassungsgerichts ist dieses besondere Gesetz das ungVerfGG (das bereits alle Bestimmungen enthält, die zum Beginn der Tätigkeit des Verfassungsgerichts zumindesten nötig sind) und hinsichtlich seiner Zuständigkeit bezüglich völkerrechtlicher Verträge dessen § 1 Buchstabe a. Diese Bestimmung gerät dadurch, daß sie die völkerrechtlichen Verträge dem Kreis der nachträglichen Verfassungsmäßigkeitsprüfung ausdrücklich entzieht und lediglich ein vorheriges Normkontrollverfahren einschließlich des Zeitpunktes der Ratifizierung ermöglicht, nicht mit § 32/A der Verfassung in Widerspruch, sondern vollzieht diesen in Überstimmung mit dieser Norm. Ein Widerspruch, d.h. eine Verfassungswidrigkeit würde entstehen, wenn § 32/A das Wort "jede" enthalten würde, d.h. wenn er dem Verfassungsgericht die Aufgabe der Überprüfung der Verfassungswidrigkeit jeder Rechtsvorschrift aufgeben würde. In Ermangelung dessen ist es nicht verfassungswidrig, wenn § 1 Buchstabe a ungVerfGG dem Verfassungsgericht keine Zuständigkeit zur nachträglichen Verfassungsmäßigkeitsprüfung völkerrechtlicher Verträge gewährt. Der § 32/A formuliert nämlich die Verfassungsanforderung, daß ein Verfassungsgericht funktioniert, daß es als minimale Zuständigkeit die Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften - in einem nicht näher bestimmten Umfang und Voraussetzungen - prüft und daß es die als verfassungswidrig beurteilten Bestimmungen aufhebt.
3. Ich bin somit der Ansicht, daß das Verfassungsgericht bei Fehlen einer gesetzlichen Ermächtigung eine vom Gesetzgeber nicht gewährte Zuständigkeit nicht ausüben darf. Darauf habe ich bereits mehrfach hingewiesen [abweichende Meinung zur Entscheidung 36/1992. (VI.10.) AB (ABH 1992, 225-226); abweichende Meinung zur Entscheidung 17/1993. (II. 19.) AB (ABH 1993, 159-160); abweichende Meinung zur Entscheidung 83/1993. (VI. 11.) AB (ABH 1993, 284-285); zustimmende Begründung zur Entscheidung 60/1994. (XII. 24.) AB (ABH 1994, 371-372)]. Ich halte die Ausübung einer solchen Zuständigkeit aus dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit heraus für bedenklich.